Der Koran schreibt keinen Gesichtsschleier vor
In vielen europäischen Ländern wird derzeit eine „Burka-Debatte“ geführt. Im ARD-Interview erklärt ein hochrangiger ägyptischer Islamgelehrter, dass die Grundlagen des islamischen Rechtes muslimischen Frauen nicht den Gesichtsschleier vorschreiben.
Die ägyptische Hauptstadt Kairo ist Sitz der Azhar-Universität. Sie ist die wichtigste sunnitisch-islamische Lehreinrichtung. Entsprechend gelten die Rechtsgutachten des Fatwa-Rates der Azhar als allgemeingültig für Sunniten. Der Generalsekretär des Fatwa-Rates, Scheikh Khaled Omran, hat sich jetzt in einem ARD-Interview eindeutig zu der Frage geäußert, ob muslimische Frauen generell ihr Gesicht verschleiern müssen – oder ob sie es überhaupt dürfen.
ARD: Müssen Frauen nach islamischem Recht einen Gesichtsschleier anlegen – was manche Musliminnen in Deutschland behaupten?
Scheikh Khaled Omran: Ich respektiere die Besonderheit des deutschen Falles bei diesem Thema, trage aber mit meinen Antworten dazu bei, die islamrechtliche Meinung in dieser Frage klarzustellen: Die Fragen nach Kleidung und Äußerlichkeit sind weitgehend private Angelegenheiten und sehr Sitten und Gebräuchen verbunden. Hierbei müssen wir die Eigenheiten und Bekleidungsgewohnheiten jeder Gesellschaft respektieren. Dazu sagte Prophet Mohammed einst: „Sage und trage was du willst. Nur zwei Sachen darfst Du nicht: Maßlos sein und arrogant!“ In der Kleidungsfrage geben die überlieferten Aussagen von Prophet Mohammed, nämlich der Koran und die Sunna, Richtlinien für die Bekleidung vor. Dies gilt besonders für Frauen: Ein Kleidungsstück darf nicht körperbetont, nicht enthüllend und nicht eng anliegend sein. Das sind die drei Kriterien. Dazu kommt jedoch, dass die Kleidung die Hände und das Gesicht nicht bedecken darf.
Gesichtsschleier nur Frauen Mohammeds vorbehalten
ARD: Also kein Niqab, keine Burka, kein Gesichtsschleier?
Scheikh Omran: Was den Gesichtsvollschleier, den sogenannten Niqab betrifft: Weder der Koran noch die Sunna schreiben ihn vor oder verpflichten die muslimische Frau dazu, ihn zu tragen. Deshalb sagen wir: Der Niqab ist eine Tradition, die Gewohnheitsrecht wurde, und die dem Brauchtum mancher Länder entstammt, aber von der nichts in den Grundlagen des islamischen Rechtes, in der Scharia, steht.
ARD: Das heißt, dass die Frauen, die einen Gesichtsschleier tragen, nicht dazu verpflichtet sind?
Scheikh Omran: Nur in einem besonderen Fall waren Frauen zum Tragen eines Gesichtsschleier verpflichtet: Die Frauen des Propheten mussten ihn anlegen. Aber nicht die muslimischen Frauen im Allgemeinen. Es war eine Besonderheit für diese speziellen Frauen von Mohammed.
Keine Rechtfertigung für Nachahmung
ARD: Kann es sein, dass muslimische Frauen – ob im Nahen Osten, in Europa oder sonst wo auf der Welt – Prophet Mohammed besonders nahestehen wollen, und deshalb sagen: Der Gesichtsschleier ist ein Symbol des Islam?
Scheikh Omran: Diese Ausnahmen bieten keine Rechtfertigung für Nachahmung. Die Ausnahmen galten nur für die Frauen des Propheten. Wenn die Scharia besagt, dass diese spezifische Regel, einen Gesichtsschleier zu tragen, nur den Propheten und seine Frauen betrifft, dürfen andere muslimische Frauen das nicht als Rechtfertigung zum Nacheifern nehmen. Es geht nur um den Propheten. Es gab auch die besondere Regel für Frauen des Propheten, dass sie nach seinem Tode nicht wieder heiraten durften. Das heißt aber nicht, dass muslimische Frauen heute sagen, ich mache das den Frauen des Propheten nach und heirate nicht ein zweites Mal, wenn ich verwitwet bin. Sie können das aus anderen menschlichen Gründen oder aus Treue tun, aber sie können nicht behaupten, dass die Scharia so etwas vorschreibt.
ARD: Ist es sogar so, dass sich eine Frau, die den Niqab anlegt, gegen die Lehren ihres Glaubens verstößt?
Scheikh Omran: Wenn eine Frau in einer Gesellschaft aufwächst, in der es Tradition ist, Niqab zu tragen, dann hat sie – aus religiöser Sicht – die freie Wahl, das zu tun oder zu lassen. Aber wenn sie sich dazu entscheidet, den Gesichtsschleier zu tragen, darf sie das nicht als einen religiösen Akt betrachten. Da hat sie ein Problem.
Abzulehnender, religiöser Fanatismus
ARD: Woher kommt dann die Ansicht, der Gesichtsschleier sei islamisch?
Scheikh Omran: Alles, was wir über die Vollverschleierung im Gedankengut des Islam recherchiert haben, hat ergeben, dass die Vollverschleierung eine Tradition ist. Die Gelehrten sind unterschiedlicher Meinung beim Niqab, wenn es um Sicherheit und Schutz der Frau geht: Einige Gelehrte sagen, der Niqab biete der Frau Schutz. Und andere sagen: „Nein, das ist Fanatismus in der Religion!“ Manche Gelehrte sagen gar, dass der Niqab eine Erfindung ist, die es in der Religion nicht gibt. Und dass es weder Männern noch Frauen erlaubt ist, einen Gesichtsschleier zu tragen. Allerdings muss man sagen, dass es Männern und Frauen in einigen Landstrichen, wie zum Beispiel in der Wüste, unter bestimmten Bedingungen erlaubt ist – und zwar wenn der Schleier sie schützt: In einem Sandsturm. Ansonsten gilt der Niqab als abzulehnender religiöser Fanatismus!
ARD: Sollte der Gesichtsschleier also verboten sein?
Scheikh Omran: Das bleibt den jeweiligen Gesellschaften überlassen. Und dabei gilt das allgemeine islamische Gebot: Schlechtigkeit abzuwehren, steht über dem Erzielen eines Vorteils. Das heißt: Gibt die Vollverschleierung Schlechtes oder Gutes für die jeweilige Gesellschaft? Einige Gelehrte sind der Meinung, dass in einigen Gesellschaften das Tragen eines Niqab den Frauen Schutz bietet. Da würde ich sagen: Okay, soll sie ihn anlegen. Aber wenn der Niqab einer Gesellschaft Nachteile bringt – wenn der Niqab als Verkleidung dient, um terroristische Verbrechen zu verüben, dann spreche ich mich dafür aus, den Niqab zu verbieten!
Mimik wichtig für zwischenmenschliche Kommunikation
ARD: An der Kairo-Universität wurde weiblichen Lehrkräften verboten, einen Gesichtsschleier zu tragen…
Scheikh Omran: An der Universität Kairo hat etwas ein Verbot nötig gemacht: Wenn die weibliche Lehrkraft vor den Studenten steht, um ihnen den Lehrstoff zu vermitteln, gehören Gestik und Mimik als Mittel der Kommunikation mit den Studenten dazu. Außerdem ist die erste Grundlage der zwischenmenschlichen Kommunikation grundsätzlich die Mimik. Und ich kann Ihre Mimik nur verstehen, wenn ich Ihr Gesicht sehe. Der Dekan der Universität Kairo hat daher die richtige Entscheidung getroffen und wir unterstützen ihn darin.
ARD: Müsste die Azhar dann nicht auch sagen, „der Gesichtsschleier ist kein Symbol des Islam – sondern ein Symbol von al-Qaida und IS. Musliminnen, legt ihn ab!“?
Scheikh Omran: In den sehr verschlossenen und konservativen Gesellschaften, abgesehen von den Gesellschaften, die unter dem IS leben müssen, haben sich die Frauen daran gewöhnt, Vollverschleierung anzulegen. Machen sie es nicht, schaden sie sich. Da kann die Azhar-Universität der Frau nicht sagen: „Mach Dein Gesicht frei!“ Sonst wäre die Azhar-Universität für ihr Leid verantwortlich.
Niqab reine Tradition, nicht religiös begründet
ARD: Das heißt, die Azhar-Universität will nicht, dass Frauen um jeden Preis den Gesichtsschleier ablegen. Aber müsste die Azhar-Universität nicht aktiv sein in der Aufklärungsarbeit?
Scheikh Omran: Ja, wir müssen die Initiative ergreifen und den Menschen auf kultureller Ebene erklären, dass der Niqab eine Tradition ist und nichts mit der Scharia zu tun hat. Und dass all jene falsch liegen, die sagen, dass der Niqab von der Scharia vorgeschrieben ist.
ARD: Zu welcher Kleidung raten Sie denn muslimischen Frauen – in Kairo, aber auch in Europa?
Scheikh Omran: Wir haben uns bei der Frage der Bekleidung vorgenommen, die Menschen niemals zu etwas zu zwingen. Dieses Prinzip gibt es in der ägyptischen Gesetzgebung seit langer Zeit. Es gibt Gesellschaften, die die Frau dazu zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Und sobald die Frau zum Beispiel in ein anderes Land fliegt und dort aus dem Flugzeug steigt, reißt sie sich das Tuch vom Kopf. Das passiert oft. Obwohl es im Islam verboten ist. Denn: Die Frau soll ihren Körper bis auf das Gesicht und die Hände bedecken. Aber wir, die Azhar, hassen es, wenn die Menschen gezwungen werden, die Scharia zu befolgen.
Wir als religiöse Institution können die Menschen zu nichts zwingen. Wir sind keine Legislative, kein Parlament. Wir sehen uns nur als Lehranstalt, der die Aufgabe zufällt, die Menschen aufzuklären. Wir mögen keinen Zwang, besonders nicht in den privaten Angelegenheiten. Am Ende ist es Gott überlassen, zu richten. Er zieht die Menschen zur Rechenschaft, nicht wir. Wir sind keine Stellvertreter Gottes auf Erden und wir sehen uns nicht als seine Türsteher.